ChancenUNgleichheit

Alle drei Jahre geht ein Aufschrei durch die Presse. Die PISA-Ergebnisse bescheinigen erneut das Versagen des deutschen Bildungssystems. In diesem Jahr sind in Deutschland die Leistungseinbußen im Lesen, in Mathematik und den Naturwissenschaften überdurchschnittlich groß. Kinder und Jugendlichen aus soziokulturell benachteiligten Familien sind besonders betroffen und erfahren keine Chancengleichheit.[1] Der Anteil an Schüler*innen mit einem Zuwanderungshintergrund ist auf 39 % angestiegen.[2] Aber nicht die Migration ist das Problem, sondern die zunehmende Heterogenität der Schüler*innen und die Hilflosigkeit des Schulsystems, sich darauf einzustellen.

Die IGLU-Studie aus dem Mai 2023 bescheinigte 25 % der Viertklässler eine nicht ausreichende Lesekompetenz. Nach PISA 2023 sind 30 % der Fünfzehnjährigen schlecht in Mathematik ausgebildet. 12 % der jungen Erwachsenen hatten 2022 keine berufliche Ausbildung[3] und seit Jahren verlassen durchschnittlich 50.000 junge Menschen die Schule ohne einen Hauptschulabschluss.[4] Die Bildungsarmut greift um sich und damit einhergehend die Zukunftsangst. Welche Chance hat ein Kind, dessen Eltern davon ausgehen, dass sie selbst nie eine Chance hatten?[5] Die Hoffnungslosigkeit beißt sich in den Gemütern fest und lässt nur noch die Zuversicht auf den Erhalt von Bürgergeld zu. Das kleinbürgerliche Glück, einen Wohnwagen für den Campingurlaub zu besitzen, ein Sommerurlaub auf Mallorca oder den Kindern neue Fahrräder zu kaufen, verblasst und geht unter in der Freude, dass zumindest die sozialen Medien eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Da darf sich jeder äußern, oder auch pöbeln und sich retuschiert der Welt zeigen. Jeder hat ein Recht auf ein Smartphone![6] Aber wer setzt sich für das Recht auf Bildung ein?

Der Anteil von Jugendlichen mit rudimentären Fähigkeiten in den Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen ist deutlich gestiegen. Können wir noch von einer Gauß- oder Normalverteilung der Leistungserwartungen in einer Klasse ausgehen? Genau hier liegt das Problem. Unsere Kinder und Jugendlichen bringen zunehmend unterschiedliche Lernvoraussetzungen mit, sodass die Leistungserwartungen nicht mehr auf eine Klasse, sondern auf einzelne Schüler*innen bezogen werden müssen. Dabei spielen die Konzentrationsfähigkeit, die Frustrationstoleranz und die Empathiefähigkeit eine Rolle. Psychische Auffälligkeiten unter Kindern und Jugendlichen haben seit der Corona-Pandemie signifikant zugenommen.[7] Nur wenn es gelingt, an die vorhandenen Lernvoraussetzungen jedes Einzelnen anzuknüpfen, kann Persönlichkeitsentwicklung und ein Wissenszuwachs im Unterricht erfolgen. Das wäre dann individualisierter Unterricht, der sich in erster Linie an den Bedürfnissen der Schüler*innen orientiert und erst danach am Curriculum. Die Lehrkraft braucht dafür eine schülerzugewandte Haltung und eine gute pädagogische Ausbildung, um dieser Herausforderung gewachsen zu sein.

Es findet nur noch selten Frontalunterricht statt. Stattdessen lernen die Schüler*innen in ihrem Tempo und auf unterschiedlichen Lernwegen. Individualisierung wird möglich durch Struktur im Schulalltag, Transparenz in den Lernplänen und Kommunikation auf Augenhöhe. Das Vermögen der Schüler*innen bestimmt den Grad der Offenheit des Unterrichts. Das Ziel ist es, soviel Selbstbestimmung wie möglich durch zunehmende Entscheidungsfreiräume zu erlangen.

Inklusion ist ein selbstverständliches Menschenrecht. Jedes Kind und jeder Jugendliche hat ein Recht auf Partizipation und auf Unbeschwertheit. Inklusion bedeutet, dass jede*r Schüler*in in ihrer/seiner Individualität gesehen und berücksichtigt wird. Wie sieht es aber im Schulalltag aus? Wird das System Schule allen Schüler*innen gerecht? Nein! Viel zu viele junge Menschen werden allein gelassen und mit schlechten Noten ausgegrenzt. Wir rauben ihnen ihre Selbstermächtigung, ihr Selbstbewusstsein und wundern uns über zunehmende Gewalt auf den Schulhöfen. Inklusion ist nur durch die Methode der Individualisierung realisierbar.

Individualisierter Unterricht bedeutet: Ich sehe dich. Du entscheidest mit. Wir staunen gemeinsam über deinen Lernzuwachs. Schüler*innen können sich so in ihren Talenten zeigen, sich als selbstwirksam erleben. Tische frontal in einer Reihe, die Lehrkraft neben der Tafel und vertieft in einen Vortrag, ein Arbeitsauftrag für die ganze Klasse, am Ende eine Klassenarbeit und Benotung nach der Normalverteilung[8] Das alles sollte der Vergangenheit angehören. In Zukunft müsste der Unterricht pädagogisiert werden.

Mein Vorschlag ist, ein Fortbildungssystem zu erstellen, um jede Lehrkraft mit individualisiertem Unterricht vertraut zu machen. Darüber hinaus wäre die Einstellung von zusätzlichen pädagogischen Mitarbeiter*innen für multiprofessionelle Teams sinnvoll. Insbesondere in der Grundschule werden Logopäden, Ergotherapeuten und andere Fachkräfte benötigt. In Deutschland sind 6,2 Mio. Menschen funktionale Analphabeten[9]. Sie können keine Informationen aus einem Text herauslesen und nicht richtig schreiben. Wenn die Grundschule es schafft, jede*n Schüler*in in den Kulturtechniken auszubilden, hätten es die Lehrkräfte und die Schüler*innen an der weiterführenden Schule leichter. Zu Zeit scheint das System überfordert zu sein.

Der pädagogische Anteil in der Lehrerausbildung ist generell zu gering. Das Lehramtstudium für das Gymnasium ist fast ausschließlich fachlich orientiert, sodass es fraglich ist, ob man eine*n Gymnasiallehrer*in überhaupt Pädagoge*in nennen sollte. Die Bundesländer ermöglichen als Reaktion auf den Lehrermangel immer mehr Quereinsteiger*innen die Lehrtätigkeit. Im Jahr 2022 unterrichtete jede zwölfte Lehrkraft ohne Lehramtsausbildung.[10] In der Regel fehlt jedwede pädagogische Qualifikation. Wie hilft einem Physiklehrer*in ihr/sein Physik-Diplom, wenn in ihrer/seiner Klasse ein hoher Anteil an Schüler*innen noch nicht richtig lesen, schreiben und rechnen kann, andere sich nicht konzentrieren können, einige völlig mutlos in die Zukunft blicken und drei einen festgestellten Förderbedarf haben? Diese Heterogenität der Schüler*innen ist heutzutage ganz normaler Schulalltag.

Bildung ist Ländersache. Die Strategie der niedersächsischen Regierung zum Umgang mit dem Lehrermangel, hervorgerufen durch die Unbeliebtheit des Berufes, ist besonders interessant. Die Grund-, Haupt- und Realschullehrkräfte bekommen einfach mehr Geld! Sie werden von A12 auf A 13 hochgestuft. Es wurden jeweils 69 Mio. Euro für die Beamten und 69 Mio. Euro für die Angestellten im Schuldienst bereitgestellt.[11] Wie viele Fortbildungen hätten damit finanziert werden können?

Fakt ist, dass die Lehrkräfte es oftmals nicht schaffen, dass unsere Kinder und Jugendlichen glücklich und gebildet ins Arbeitsleben starten. Ihre Arbeit ist nicht von Erfolg gekrönt und trotzdem werden sie belohnt? Gibt es hier kein Leistungsprinzip? Und was haben eigentlich die Schüler*innen davon, wenn die Lehrkräfte mehr Geld bekommen? Wird der Unterricht dadurch automatisch besser?

Im Jahr 2000 hat uns der PISA-Schock auf die bestehende Chancenungleichheit aufmerksam gemacht. [12] Fast ein Vierteljahrhundert später hat die Heterogenität der Schüler*innen, trotz der eingeleiteten Maßnahmen, weiter zugenommen. Langfristige Bildungsreformen wurden zwar angeschoben, aber nach 24 Jahren gehen die Leistungen der Schüler*innen immer noch bergab.[13] Die Einführung der Bildungsstandards führte zu einer zunehmenden Vergleichbarkeit der Leistungen. Das hilft Politikern, aber nicht den Schüler*innen. Die Durchführung von Vergleichsarbeiten erhöht den Druck auf alle Beteiligten und führt weder zu einem positiven Lernklima noch zu einem Lernzuwachs.

Eine weitere Lösungsstrategie war das Recht auf einen Kita-Platz und somit der Ausbau der Frühförderung und das Recht auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule. Die Kita oder die Grundschule sollen ausgleichend einwirken und somit Chancengleichheit ermöglichen- so der Plan der Reformer. Leider stehen die maroden Gebäude, mangelhafte Ausstattung, fehlende Fortbildungsmöglichkeiten und damit eine fehlende Qualifikation der Erzieher*innen und Lehrer*innen gegenüber. Was bringt ein Kita-Platz, wenn die Betreuung einer Aufbewahrung gleicht?

Darüber hinaus ist mir auch nicht verständlich, warum die staatliche Betreuung besser sein soll als der familiäre Zusammenhalt. Die Stärkung der Familie durch vielfältige Unterstützungsangebote machen meines Erachtens eine umfassende Integration aller Beteiligten möglich. Jeder Stadtteil oder Ort könnte Familienhelfer einstellen und ein lokales Unterstützersystem organisieren. Damit entsteht eine Familienhilfe, die auch ohne die Einwilligung des Amtes tätig werden könnte, die als tatsächliche Hilfe wahrgenommen werden könnte, weil sie nicht als bedrohlich empfunden wird. Ein Ziel wäre, dass sich Familien gegenseitig unterstützen.

Das Angebot an Sportmöglichkeiten und Musikunterricht sollte für Kinder und Jugendliche kostenlos sein und nicht von einer Bewilligung der Kostenübernahme des Amtes abhängig sein. Es kann nicht sein, dass das Erlernen eines Musikinstrumentes nur Kindern einer privilegierten Familie zusteht.

Die Aufwertung der Familie und die Stärkung eines Netzwerkes innerhalb eines Stadtteils ermöglichen wirkliche Chancen für Kinder und Jugendliche. Chancengleichheit entsteht, wenn Mütter und Väter gehört werden und sie Unterstützung erfahren. Ich halte es für den falschen Ansatz, die Erziehungsverantwortung durch Fremdbetreuung immer mehr in die Hände der Institutionen zu legen. Sicher ist es für einige Kinder und Jugendliche sinnvoll, mehr Zeit in staatlicher Obhut zu verbringen. Die Mehrheit der Kinder aber brauchen ihre Eltern, die es sich leisten können müssen, weniger zu arbeiten, um mehr Zeit mit ihrer Familie zu verbringen.

Deutschland liefert für 525.6 Mio. Panzer Typ Leopard A8 und für 190.7 Mio. Panzerhaubitzen 2000 in den Ukraine-Krieg.[14] Mit jedem Panzer werden Menschen zu Zielscheiben für Kampfhubschrauber und Drohnenangriffe. Wäre das Geld nicht besser in der Bildung unserer nächsten Generation angelegt? Brauchen wir nicht in Zukunft Menschen, die über so viel Empathie verfügen, dass sie keine Mitmenschen zu Zielscheiben degradieren? Wir brauchen Menschen, die denken können und sich selbst ermächtigen, Lösungsstrategien anzuwenden!

Wenn wir in Zukunft friedlich miteinander leben wollen, dann sollten wir jetzt in unsere Kinder und Jugendlichen investieren. Gestehen wir ihnen ihr Recht auf Bildung und Familienleben und Unbeschwertheit zu!


[1]https://www.pisa.tum.de/fileadmin/w00bgi/www/Berichtsbaende_und_Zusammenfassungungen/PISA-2022-zusammenfassung.pdf (abgerufen am 30.12.23)

[2] Dieser verteilt sich auf allen Stufen der Zuwanderung, das heißt von Schüler*innen mit nur einem im Ausland geborenen Elternteil bis hin zu Schüler*innen der ersten und zweiten Generation (Eltern und Jugendliche*r sind im Ausland geboren bzw. nur die Eltern sind im Ausland geboren). (https://www.pisa.tum.de/fileadmin/w00bgi/www/Berichtsbaende_und_Zusammenfassungungen/PISA-2022-zusammenfassung.pdf (abgerufen am 30.12.23))

[3] https://de.statista.com/themen/11025/bildungsarmut/ (abgerufen: 30.12.23)

[4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/221562/umfrage/schulabgaenger-ohne-hauptschulabschluss-in-deutschland-zeitreihe/ (abgerufen: 30.12.23)

[5] https://de.statista.com/infografik/20205/schulabgaenger-ohne-hauptschulabschluss/ (abgerufen: 30.12.23)

[6] https://www.buerger-geld.org/news/buergergeld-jobcenter-muss-telefon-und-internetanschluss-zahlen/ (abgerufen: 07.01.23)

[7] http://www.copsy-studie.de/ (abgerufen am 30.12.23)

[8] https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/213307/das-dilemma-mit-den-schulnoten/ (abgerufen am 07.01.23)

[9]https://de.statista.com/infografik/17918/analphabetismus-in-deutschland/ (abgerufen: 30.12.23)

[10] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/10/PD23_N053_21 (abgerufen am 30.12.23)

[11]https://www.mk.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/informationsblatt_a_13_fur_ghr_lehrkrafte_und_a_10_fur_fachpraxislehrkrafte/umsetzung-der-koalitionsvorhaben-a-13-fur-ghr-lehrkrafte-und-a-10-fur-fachpraxislehrkrafte-224099.html (abgerufen am 30.12.23)

[12] https://www.oecd.org/ueber-uns/erfolge/deutschlands-pisa-schock.htm (abgerufen am 30.12.23)

[13] Bei genauer Betrachtung gab es zwischenzeitlich auch positive Tendenzen, die nun aber deutlich vom Abwärtstrend eingeholt wurden.

[14] www.tagesspiegel.de/politik/als-ausgleich-fur-waffenlieferungen-bundeswehr-bekommt-18-neue-leopard-2-panzer. (abgerufen am 30.12.23)

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